Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918

Abschnitt 6: Harte Arbeit an der Heimatfront, Einsatz für Frauen

[180-181] Man hat oft den Daheimgebliebenen den Vorwurf gemacht, dass sie keine Ahnung hätten von dem, was Krieg sei, und in der Tat, wer auch nur von ferne das ganze Grausen der wahrheitsgetreuen Kriegsromane und Filme verspürt hat, wird zugeben müssen, dass ihm das Entsetzen dieses schier Untragbaren erspart geblieben ist. Ebenso wie leider zuzugeben ist, dass das lärmende und aufpeitschende Vergnügungsgetriebe, der ganze „Betrieb“ der Großstädte, dem beurlaubten oder krank und verwundet heimkehrenden Frontsoldaten ein Ekel gewesen sein muss. Aber außerhalb jener zu allen Zeiten nur an sich denkenden Obendraufmenschen und Egoisten gab es ein anderes Volk, das sich in der Qual der Angst und der Sorge verzehrte, und das arbeitete und arbeitete. Ja, wir haben gearbeitet bis zur Erschöpfung. In der Kriegsfürsorge, in den Lazaretten, an den Bahnhöfen, in den Kriegsküchen. Überall, wo man uns brauchen konnte, überall wo man uns wollte, haben wir Dienst getan, Tag und Nacht. Und diese Arbeit war trostlos. Ein Beispiel. Da war das Lebensmittelamt. Wir berieten, wem Milch und Haferflocken zugeteilt werden sollten. Man nannte an erster Stelle die Tuberkulösen. Da war ich, eine Frau, es, die widersprach. Man fand es grausam, dass gerade eine Frau sich der Hilfe für diese Kranken versagte. Da führte ich begründend aus: Beiden können wir nicht helfen. So haben wir zu wählen, ob wir zuerst für die Tuberkulösen oder für die schwangeren Frauen, Wöchnerinnen und Säuglinge sorgen sollten. Das Leben der Tuberkulösen könnten wir vielleicht um Tage, Wochen oder Monate verlängern. In den Müttern und Kindern sei unsere Zukunft beschlossen. Es ist hart, so hart sein zu müssen. [S. 181]

Ein anderes. Ich komme als Mitglied des Lebensmittelamtes zu dem Dezernenten, der mit der Sonderzuteilung von Haferscheinen etc. betraut war, und bitte um bezügliche Zuweisung für eine hochschwangere Frau. Der Herr war abgeneigt, denn der städtische Herr Medizinalrat X habe gemeint, Schwangere bedürften gar keiner besonderen Ernährung. Ich antwortete brüsk: „Herr P., das muss ich besser wissen! Der Herr Medizinalrat hat noch nie ein Kind gekriegt.“ Ich bekam meine Scheine.


Personen: Fürth, Henriette
Empfohlene Zitierweise: „Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918, Abschnitt 6: Harte Arbeit an der Heimatfront, Einsatz für Frauen“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/29-6> (aufgerufen am 01.05.2024)