Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918

Abschnitt 2: Tätigkeit bei der Kriegsfürsorge Bornheim

[177-] Und nun war Krieg und nun musste man helfen. Ich hatte mich selbstverständlich sofort zur Verfügung gestellt. Wenn keine andere Verwendung da wäre, auch für Kartoffelschälen. Man hatte mich der unter Leitung von Pfarrer Pauly stehenden Kriegsfürsorge Bornheim zugeteilt. Da gab es Arbeit. Heiße Arbeit im heißen Monat August. Von halb neun Uhr früh bis halb neun Uhr am Abend. Keine Zeit zu frühstücken. Keine, sich den Schweiß abzuwischen, der in Strömen an einem herunter lief. Keine Pause. Kaum Zeit zum Mittagessen. Am Tag wurde man von Menschen und Schicksalen bedrängt. Nachts von Halluzinationen heimgesucht. Noch fehlte es an Ordnung und Durchorganisierung der Kriegsfürsorge. Es kam vor, dass betrügerische Elemente, fast ausschließlich Männer, sich an vier, fünf Fürsorgestellen unter falscher Wohnungsangabe meldeten und überall unterstützt wurden. Als ich einmal einen solchen Burschen zurückwies, drohte er, mich gelegentlich mal auf der Straße zu erstechen. Ich wandte mich lachend an den in der Nähe stehenden Leiter und sagte: „Herr Pfarrer, Sie müssen mich unbedingt in eine Lebensversicherung aufnehmen lassen.“ Der Zudrang bei uns war (es handelte sich um einen dichtbevölkerten und in der Hauptsache von wenig Bemittelten bewohnten Bezirk), bevor die Sache alphabetisch und chronologisch geordnet war, manchmal so stark, dass wir die Türen schließen mussten, und ich erinnere mich, dass ich einmal, bevor dies geschah, noch rasch ein altes, schwaches, an allen Gliedern bebendes Mütterchen herein zog und sie auf einem Stuhl in Sicherheit brachte. Wenn ich jetzt zurückblicke, ist es mir, als ob nicht so sehr die Not als eine gewisse Panikstimmung in diesen ersten Wochen zum Durchbruch gekommen wäre. Die Welt schien aus den Fugen. Alles schwankte. Jeder fürchtete den kommenden Tag. Das übte natürlich einen niederschmetternden Einfluss auf Handel und Wandel aus. Es wurde nichts gekauft, die Läden verödeten. Manche Geschäftsinhaber beschäftigten ihre weiblichen Angestellten mit Stricken etc. Massenentlassungen wurden vorgenommen oder vorbereitet. Mit irgendeiner Legitimation (ich weiß nicht mehr von welcher Stelle) besuchte ich alle größeren Ladengeschäfte und Betriebe und bat inständig, wenn’s nicht anders ginge, die Angestellten in ihren Bezügen zu reduzieren, sie aber nur nicht auf die Straße zu setzen.


Personen: Fürth, Henriette · Pauly, Pfarrer
Orte: Bornheim
Sachbegriffe: Kriegsfürsorge
Empfohlene Zitierweise: „Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918, Abschnitt 2: Tätigkeit bei der Kriegsfürsorge Bornheim“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/29-2> (aufgerufen am 01.05.2024)