Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Tagebuch des Trainsoldaten und Infanteristen Max Müller aus Kassel, 1914-1916

Abschnitt 2: Vormarsch durch Belgien bis zur Maas

[7-11]

Am 22. Aug[ust] [1914] brachen wir unser Lager ab, es geht über Abille1 nach Chablon2. Nachts wurden wir durch heftiges Gewehrfeuer geweckt. Wir glaubten, daß feindliche Patrouillen beschossen würden, merkten aber bald den Irrtum, eigene Kameraden beschossen sich. Zum Glück wurde keiner verwundet. Heute, am 23. Aug[ust] bekam ich als selbständiger Fahrer einen Wagen. Wie ich damit fertig werden soll, ist mir bis jetzt noch ein Rätsel, na, es wird schon werden. Beim Appell kam die Nachricht, daß 9.000 Franzosen gefangen seien und das 9. Franz[ösische] A.-K. geschlagen sei. Abends sangen wir Lieder, futterten trockenes Brot und tranken Kaffee. Ein Hochgenuß! Dann begaben wir uns zur Ruhe, nicht ins weiche Bett, sondern unter unsere Wagen, wo wir nach getaner Arbeit wie im Himmelbett schliefen. Es ist nur gut, daß die [S. 8] Augustnächte so warm sind und im kalten Winter sind wir wieder zu Hause. Wir kommen näher zur Front. Unaufhörlicher Kanonendonner. Viele Dörfer erleuchten den Horizont als mächtige Fackeln, es ist ein grausiges Bild.

September. Wir kommen nach Flagimoulin3 und halten kurze Rast. Das Dorf ist ziemlich in Ordnung, wir nutzen die Gelegenheit und kaufen bezahlte und unbezahlte Hühner. Auch eine Wirtschaft treiben wir auf. Das Glas Bier für 2 Sous.4

[S. 9] Nachdem wir uns gelabt hatten, besuchten wir unsere verwundeten Kam[erad], die in der Kirche lagen, es sind etwa 500 Schwer- und Leichtverwundete. Hier sah ich die ersten franz[ösischen] Gefangenen, etwa 200 Infanteristen, schwächliche Gestalten mit hohlen Wangen und schlechter Kleidung. Von Flagimoulin ging es einen steilen Berg herab zur Maas, zur vielbesungenen. Hier hatten unsere Pioniere harte Arbeit zu leisten. Die große Eisenbahnbrücke war vom Feind gesprengt worden. Im Kugel- und Granatfeuer bauten die Pioniere eine Pontonbrücke. Diese Notbrücke überquerten wir um ½ 5 nachmittags. Von nun an machten sich die Spuren des Krieges immer deutlicher bemerkbar. Mehrere Häuser brannten, andere qualmten noch, am Weg lagen tote Belgier und Franzosen, tote Pferde, zerbrochene Geschütze und Wagen. Tagszuvor hatte hier zwischen Waul-Sort5 und Mourville6 ein Gefecht stattgefunden. Die Franzosen sind beim Mittagsmahl von unserer Infanterie überrannt worden. Kochtöpfe, Eßnäpfe, angeschnittene Seiten Speck lagen wirr durcheinander. Frische Grabkreuze zeigten die Ruhestätte von Freund und Feind. Verschiedene Franzosen [S. 10] lagen noch so, wie sie gestürzt waren. Als die Bewohner eines Dorfes7 uns während der Durchfahrt beschossen, wurden der Pfarrer, Mairie8 und verschiedene andere Bewohner sofort am Straßenrand erschossen. Die Männer mußten links, Frauen und Kinder rechts antreten und die Männer dann vor den Augen der Angehörigen erschossen. Ein furchtbarer Jammer, mir selbst war es nicht einerlei, aber Krieg ist Krieg, entweder du oder ich. Das Dorf wurde verbrannt. Am 6. September kamen wir von den Combreshöhen nach dem vollständig [S. 11] zerschossenes St. Remy9, wo wir einen halben Tag blieben. Wir waren froh, als wir dem furchtbar stinkenden St. Remy den Rücken kehren konnten.

{Postkarte St. Rémy mit Combres-Höhen}


  1. Nicht lokalisiert.
  2. Champlon, Ort in der belgischen Provinz Luxembourg, etwa 25 km nordwestlich von Bastogne.
  3. Einen belgischen Ort mit diesem Namen existiert nicht, so dass man eine Verschreibung annehmen darf. In der Nähe von Waulsort, jedoch auf der östlichen Seite der Maas, liegt Falmignoul (wallonisch: Falmignoûle), dass mit hoher Wahrscheinlichkeit gemeint ist.
  4. An dieser Stelle ist ein Foto einer Kirche eingeklebt. Sie ist mit der heutigen Kirche in Falmignoul offensichtich nicht identisch.
  5. Wahrscheinlich Waulsort an der Maas, Belgien, südlich Dinant.
  6. Morville, etwa 12 km westlich Maulsort.
  7. Der Ort konnte bisher nicht ermittelt werden.
  8. Gemeint ist der Maire (Bürgermeister).
  9. Saint-Remy-la-Calonne, südlich Les Éparges, Département Meuse.

Personen: Müller, Max
Empfohlene Zitierweise: „Tagebuch des Trainsoldaten und Infanteristen Max Müller aus Kassel, 1914-1916, Abschnitt 2: Vormarsch durch Belgien bis zur Maas“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/179-2> (aufgerufen am 03.05.2024)