Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Hermann Cohen, Vom ewigen Frieden

Abschnitt 3: Kampf für das Vaterland als Inbegriff des Guten

[45-47]
Nicht anders verhält es sich nun auch mit der Idee des ewigen Friedens. Lange bevor sie Idee wurde, war sie ein Gedanke des Mythos in dem des goldenen Zeitalters. Was diesen Gedanken des Mythos von der ethischen Idee unterscheidet, das ist die Vergangenheit, die kein geeigneter Zeitraum ist für die sittliche Aufgabe und für das Sollen. Da kamen die Propheten Israels und kehrten den Sinn der Weltgeschichte um, indem sie kraft dieser Umkehrung erst die Weltgeschichte als die Geschichte der [S. 46] Menschen und der Völker erdachten. Ihr Gott, der einzige Gott aller Menschen und aller Völker, der „der Gott der ganzen Erde genannt werden soll" (Jesaja), er setzte dem Menschengeschlechts einen sittlichen Zweck und ein Ziel. Daher wird der Leitbegriff der Geschichte die Zukunft.
Da nun aber die Propheten, als internationale Politiker, das Böse nicht ausschließlich, noch vornehmlich in den Individuen erkannten als vielmehr in den Völkern, so wurde ihnen der Krieg zum Symbol des Bösen in der Menschenwelt. Und so wurde ihnen das Verschwinden der Kriege, der ewige Frieden unter den Völkern zum Symbol der Sittlichkeit auf Erden, poetisch malten sie diesen Frieden auch in der Tierwelt aus, in der das Lamm bei dem Wolfe, der Parder bei dem Böcklein weilet. Den ganzen Inbegriff dieser ihrer weltgeschichtlichen Sittlichkeit bildet das Zeitalter des Messias, in welchem die Völker ihre „Schwerter umschmieden zu Winzermessern". Dieser geschichtliche Messianismus bildet die religiöse Vorstufe des ethischen Idealismus.
Auf diese Wirklichkeit des Guten auf Erden hoffen wir Menschen alle. Aber die Philosophie lehrt uns, daß diese Wirklichkeit vielmehr nur eine Verwirklichung bedeuten kann. Und wie wir die Wirklichkeit überhaupt niemals verlassen denken dürfen von dem Lichtstrahl der Idee, so erkennen wir genau, daß jeder Schritt des sittlichen Lebens eine Stufe bedeutet im Verwirklichungsprozesse des Guten auf Erden. [S. 47]
Ist der ewige Friede nun etwa ein Trugbild? Nimmermehr: er ist der politische Ausdruck der messianischen Idee, die wir nicht sowohl als Wirklichkeit, als vielmehr als Verwirklichung der Sittlichkeit zu erkennen haben.

Wer könnte sich nunmehr rühmen und bewußt sein, in diesem Stande des Strebens und des Ringens nach der Verwirklichung des Guten fester zu stehen als ihr, die ihr für den irdischen Inbegriff der Sittlichkeit und des Guten mit eurem Leben einsteht. Oder gäbe es einen höheren Inbegriff des Guten, als den das Vaterland bildet, für unser Sehnen und Trachten auf seine herrliche Zukunft und seine weltgeschichtliche Ewigkeit? gäbe es einen höheren Wert für die ganze Fülle unseres Bewußtseins, als des Bewußtseins von Menschen der Kultur?


Personen: Cohen, Hermann
Sachbegriffe: Philosophie · Professoren · Ewiger Friede
Empfohlene Zitierweise: „Hermann Cohen, Vom ewigen Frieden, Abschnitt 3: Kampf für das Vaterland als Inbegriff des Guten“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/166-3> (aufgerufen am 07.05.2024)