Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Contemporary History in Hessen - Data · Facts · Backgrounds

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Gastarbeiter

  1. Überblick
  2. Erstes Anwerbeabkommen und begrenzte Zuwanderung bis Ende der 50er Jahre
  3. Steigende Arbeitskräftenachfrage aufgrund sozialstruktureller und sozio-ökonomischer Veränderungen zu Beginn der 1960er-Jahre
  4. Neue Anwerbeabkommen mit weiteren europäischen Ländern
  5. Gastarbeiter in Hessen in den 1960er-Jahren
  6. Kulturelle Unterschiede: die Gastarbeiterfrage zwischen gespaltener Akzeptanz und wachsenden Integrationsbemühungen

1. Überblick

Gastarbeiter, d. h. aus dem Ausland nach Deutschland kommende Personen, denen aufgrund eines zwischenstaatlichen Anwerbeabkommens ein zeitlich befristeter Aufenthalt zur Erzielung von Erwerbseinkommen gewährt wurde, strömten seit der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre in die Bundesrepublik. Sie stammten aus unterschiedlichen Herkunftsländern mit denen entsprechende Abkommen zwischen 1955 und 1968 geschlossen wurden: ein Großteil der Gastarbeiter stammte aus den Staaten Italien, Spanien und Griechenland sowie aus der Türkei. Daneben zählten aber auch Portugal und Jugoslawien sowie die nordafrikanischen Staaten Marokko und Tunesien zu ihren Heimatländern. Die in die Bundesrepublik gelangenden Gastarbeiter, die anfangs aus Italien, in den 1960er-Jahren aber v. a. aus der Türkei und anderen Ländern Europas zuwanderten, waren erheblich am wirtschaftlichen Aufbau der jungen Republik beteiligt. Sie wurden meist als un- oder angelernte Arbeitskräfte in der Industrie beschäftigt. Die meisten von Ihnen arbeiteten in Bereichen, in denen schwere und schmutzige Arbeit verrichtet werden musste und nur geringe Anforderungen an ihre Qualifikation gestellt wurden. Ihre Beteiligung am bundesdeutschen Arbeitsmarkt ermöglichte während der „Wirtschaftswunderzeit“ zusätzliches Wirtschaftswachstum. Gleichzeitig dämpfte die hohe Sparquote der Gastarbeiter die Konsumgüternachfrage, was die Preisentwicklung stabilisierte.1

Unterkunft fanden sie aus anfangs oft in Wohnheimen, die die Firmen auf dem eigenen Betriebsgelände errichteten. Die Heime wurden als Teil der Fabrikgrundstücke in aller Regel von der Außenwelt abgeschirmt, ihre Zimmer mit mehreren Arbeitern belegt. Den Gastarbeitern war diese günstige Art der Unterkunft willkommen, da sie dadurch mehr Geld sparen und in die Heimat schicken konnten.

Zuwanderung als ausschlaggebender Faktor des sozialen Aufstiegs deutscher Arbeiter

Dadurch, dass die Gastarbeiter Arbeitsplätze besetzten, für die deutsche Arbeiter gar nicht oder nur mit entsprechenden Lohnanreizen zu bekommen waren, ermöglichten sie in nicht zu vernachlässigendem Weise den deutschen Arbeitnehmern den Aufstieg in qualifizierte und in aller Regel besser bezahlte Positionen. Der Soziologe Friedrich Heckmann berechnete Anfang der 80er Jahre , dass zwischen 1960 und 1970 etwa 2,3 Millionen Deutsche vom Arbeiter in Angestelltenpositionen aufstiegen und dies zum großen Teil darauf zurückzuführen sei, dass die Unterschicht der bundesrepublikanischen Gesellschaftsstruktur in dieser Zeit durch die aus dem Ausland angeworbenen Arbeitskräfte aufgefüllt wurde („Unterschichtung“).2

Der steigende Bedarf nach Arbeitskräften aufgrund des schnellen und nachhaltigen Wirtschaftswachstums schmälerte sich in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre. Ab 1966 verringerte sich die Ausländerbeschäftigung in der Bundesrepublik bis Ende des Jahrzehnts um rund ein Drittel3 um anschließende für wenige Jahre erneut anzusteigen. Die wirtschaftlichen Folgen des Ölpreisschocks von 1973 und der darauf folgende wirtschaftliche Depression führten 1973 zu einem Anwerbestopp, der die staatlich organisierte Arbeitsmigration beendete. Zu diesem Zeitpunkt waren ca. 2,6 Millionen ausländische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik beschäftigt. Viele von ihnen blieben weitaus länger, als es in den seit Mitte der 1950er-Jahre (zuerst mit Italien) geschlossenen „Anwerbeabkommen“ vorgesehen worden war. Ehemalige Gastarbeiter und ihre Nachkommen bilden heute den größten Teil der Bürger mit Migrationshintergrund in Hessen und der gesamten Bundesrepublik.

Am 30. Oktober 1961 unterzeichneten die Bundesrepublik und die Türkei einen Vertrag über die Anwerbung türkischer Arbeitskräfte. Damit waren Grundsteine für eine Zuwanderung gelegt, die über mehrere Jahrzehnte hinweg das Zusammenleben in Deutschland nachhaltig prägen sollte.

Hessen wurde in der Mitte der 1960er-Jahre zu einem Schwerpunktgebiet der Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern. Die Statistik der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung bezifferte die Zahl der im Landesarbeitsamtsbezirk Hessen registrierten Erwerbstätigen aus dem Ausland im Juni 1966 auf 147.500 Personen. Damit rangierte das Land Hessen im Vergleich der Bundesländer auf Platz drei hinter Nordrhein-Westfalen (407.000) und Baden- Württemberg (351.300).

2. Erstes Anwerbeabkommen und begrenzte Zuwanderung bis Ende der 1950er-Jahre

Der bis Mitte der 1960er-Jahre anhaltende Wirtschaftsaufschwung und die hohe Nachfrage nach Arbeitskräften hatten die Bundesrepublik in den 50er Jahren veranlasst, ein erstes Abkommen zur Aufnahme von ausländischen Arbeitskräften zu treffen. Am 22. Dezember 1955 wurde in Rom ein deutsch-italienisches Anwerbeabkommen geschlossen. Darin wurde geregelt, dass Arbeitskräfte in Italien von einer Anwerbekommission der Bundesanstalt für Arbeit und in Zusammenarbeit mit der italienischen Arbeitsverwaltung ausgewählt und angeworben werden sollten. Bis Ende des Jahrzehnts erreichte die Zahl der angeworbenen italienischen Gastarbeiter allerdings nur einen vergleichsweise geringen Umfang, denn bis zu diesem Zeitpunkt bildete die Zuwanderung von Flüchtlingen aus der DDR eine stete Reserve, aus der die deutsche Wirtschaft einen Teil der von ihr benötigten Arbeitskräfte rekrutierte. 1959 arbeiteten weniger als 50.000 ausländische Arbeiter aus Italien in Deutschland, die meisten in der Landwirtschaft.

3. Steigende Arbeitskräftenachfrage aufgrund sozialstruktureller und sozio-ökonomischer Veränderungen zu Beginn der 1960er-Jahre

Zwischen 1959 und 1962 kam es jedoch zu einer Wende auf dem deutschen Arbeitsmarkt, die in der Folge die Nachfrage nach Arbeitskräften aus dem Ausland sprunghaft ansteigen ließ. Mit dem Aufbau einer unüberwindlichen innerdeutschen Grenze (Bau der Mauer) versiegte 1961 den Zustrom von Menschen, die der DDR den Rücken kehrten. Fast zeitgleich sank die Zahl der westdeutschen Erwerbstätigen. Zum einen traten die geburtenschwachen Jahrgänge der Kriegszeit ins Arbeitsleben ein. Zum anderen führte die verbesserte Altersversorgung zu einem durchschnittlich früheren Eintritt der Arbeitnehmer in den Ruhestand. Zusätzlich verlängerten sich in den 1960er-Jahren die Ausbildungszeiten, und nicht zuletzt sorgte die fortlaufende Verkürzung der Wochenarbeitszeit (von im Schnitt 44,4 Stunden in 1960 auf 41,4 Stunden in 19674) für Lücken, die durch ausländische Arbeitskräfte aufgefüllt werden mussten.

4. Neue Anwerbeabkommen mit weiteren europäischen Ländern

Für die Unternehmen wurde es bereits ab 1959 zunehmend schwieriger, zusätzliche Arbeitskräfte zu gewinnen, um die Produktion auszuweiten. Sowohl die deutschen Arbeitgeber als auch die Regierung gaben sich einig darüber, dass in dieser Situation die Anwerbung einer bedeutenden Zahl von Arbeitskräften aus den europäischen Nachbarstaaten unumgänglich war. Nach dem Muster der einige Jahre zuvor mit Italien geschlossenen Vereinbarungen kam es nun zu weiteren Anwerbeabkommen. Im März 1960 schloss der deutsche Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Theodor Blank (1905-1972) Anwerbeverträge mit Griechenland und Spanien. Es folgten weitere Abkommen mit der Türkei (1961), Portugal (1964) und Jugoslawien (1968).5

Die Initiativen der Anwerbeabkommen gingen allerdings entgegen landläufiger Meinung weniger von der deutschen Industrie, als vielmehr von den Herkunftsländern der Gastarbeiter aus. Die hohe Arbeitslosigkeit in ihren Heimatländern und der Wunsch dieser Staaten nach einem Ausgleich für ihre im Austausch mit Deutschland unterlegene Exportwirtschaft bildeten den Hintergrund für die Einwanderung.

5. Gastarbeiter in Hessen in den 1960er-Jahren

1963 arbeiteten rund 87.000 Gastarbeiter in Hessen. Dies entsprach einem Anteil von 4,5 Prozent an der Gesamtheit der hier beschäftigten Arbeitnehmer. Innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren hatte sich damit die Zahl der in hessischen Betrieben tätigen ausländischen Arbeitnehmer nahezu verneunfacht: 1959 arbeiteten in Hessen nur etwa zehntausend aus dem Ausland stammende Arbeitskräfte.

Die aus Italien stammenden Gastarbeiter bildeten mit etwas mehr als dreißigtausend Personen 1963 die zahlenmäßig stärkste Gruppe unter den aus dem Ausland stammenden Beschäftigten in Hessen. An zweiter Stelle standen die Spanier (22.000 Personen), gefolgt von den Griechen (10.000), Jugoslawen (5.500), und Türken (2.700).6

Als einzige Gruppe unter den in Hessen beschäftigten Gastarbeitern wies die Zahl der Italiener 1963 gegenüber dem Vorjahr einen geringfügigen Rückgang auf. Die aufgrund verbesserter Arbeitschancen vermehrt in ihr Heimatland zurückkehrenden italienischen Arbeiter wurden aber durch ein wachsendes Angebot der auf den hessischen Arbeitsmarkt gelangenden Griechen und Türken mehr als ausgeglichen. Insbesondere in der Türkei waren Einreise und der Arbeitsaufenthalt in Deutschland zu dieser Zeit so groß geworden, dass die Deutsche Bundesbahn erklärte, sie wolle vom Sommer 1964 an jede Woche einen Sonderzug für die türkischen Arbeitsmigranten bereitstellen.

Aufgrund der günstigeren Arbeitsmarktlage konzentrierte sich der Zuzug der Gastarbeiter überwiegend im südhessischen Raum.7

Den höchsten Beschäftigungsanteil ausländischer Arbeiter verzeichneten 1963 das Baugewerbe, die Eisen- und Metallindustrie sowie der Bergbau. Eine drei Jahre später durchgeführte statistische Erhebung belegte, dass 90% der in der Bundesrepublik arbeitenden ausländischen Männer als Arbeiter beschäftigt waren; der Anteil der Arbeiter belief sich bei den deutschen Männern auf nur 49%.8

1964 stieg die Zahl der im Ausland für die Arbeit in der hessischen Industrie neu angeworbenen Ausländer abermals um rund 8.000 Personen an. Ursprünglich rechneten die Anwerber in der Türkei, in Italien, Spanien, Griechenland und in Portugal damit, rund fünfzehntausend Ausländer für den hessischen Arbeitsmarkt zu gewinnen. Schließlich folgten aber 21.400 Arbeitsmigrantinnen und -migranten dem ihrem Ruf der hessischen Wirtschaft, darunter 1.620 Frauen. Die meisten der 1964 neu nach Hessen gelangenden ausländischen Arbeitnehmer stammten aus Spanien (8.000), gefolgt von Griechenland (5.800), der Türkei (4.800), Italien (2.600) und Portugal (260).9

6. Kulturelle Unterschiede: die Gastarbeiterfrage zwischen gespaltener Akzeptanz und wachsenden Integrationsbemühungen

Gespaltene Akzeptanz in der Gesellschaft

Die Akzeptanz der Gastarbeiter in der Gesellschaft blieb allerdings gespalten. Zwar versprach die Aufnahme der Arbeitsmigranten wirtschaftliche Vorteile. In der öffentlichen Diskussion wurden jedoch zunehmend kulturelle Unterschiede zu den Deutschen als Problem in den Arbeitsbeziehungen betont.

Fremdsprachige Radioprogramme für ausländische Mitbürger

Dieser Wahrnehmung standen jedoch bereits in den 1960er-Jahren starke Bemühungen um eine kulturelle Integration der Gastarbeiter gegenüber, die zu einem festen Bestandteil des öffentlichen Raums wurde. So befasste sich z. B. der Rundfunk nicht allein mit der Berichterstattung über die Umstände, unter denen ausländische Arbeitskräfte nach Westdeutschland kamen und hier lebten, sondern adressierte Teile des Programms an sie. Nachdem bereits 1961 der SR, der BR und der WDR eigene fremdsprachige Programme für die ausländischen Mitbürger gestartet hatten, zog 1964 auch der Hessische Rundfunk mit entsprechenden Sendebeiträgen nach. Sie wurden im „Dritten“ Hörfunkprogramm der Sendeanstalt zusammengefasst, das anfangs einen reinen Spartenkanal bildete und später in veränderter Form als Verkehrsfunk- und Musikkanal unter der Bezeichnung „hr3“ große Popularität erlangte.

Kai Umbach


  1. Die herkunftsbedingte Lohndiskriminierung der Gastarbeiter in der Bundesrepublik war allerdings eklatant. Die Löhne für männliche Arbeitskräfte aus dem Ausland lagen in den 1960er-Jahren zu mehr als Dreiviertel, die der Frauen zu 60 Prozent unter dem Durchschnitt dessen, was ihre inländischen Kollegen verdienten. Selbst Gastarbeiter, die als Facharbeiter durch Weiterbildung eine qualifiziertere Befähigung erworben hatten, wurden trotz gleicher Qualifikation zu 80 Prozent unterdurchschnittlich entlohnt. Oder in anderen Worten: deutsche Facharbeiter erhielten aufgrund ihrer Herkunft höhere Gehälter.
  2. Vgl. Heckmann, Friedrich: Ethnische Minderheiten, Volk und Nation : Soziologie inter-ethnischer Beziehungen (Serie: flexibles Taschenbuch SOZ), Stuttgart 1992; S. 79 ff.
  3. In Hessen beobachtete das Landesarbeitsamt in Frankfurt am Main nach Jahren des kontinuierlichen Anstiegs der Anzahl der in Hessen beschäftigten ausländischen Arbeitnehmer zu Jahresbeginn 1967 einen einsetzenden Rückgang, vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.03.1967, S. 56: „Weiter auf Gastarbeiter angewiesen“.
  4. Feldvoß, René: Die Selbstwahrnehmung von Arbeitsmigranten in der Bundesrepublik 1955–1973 [Elektronische Ressource], Hamburg 2014 (zugl.: Hamburg, Univ., Masterarbeit, 2014 u.d.T.: Feldvoß, René: „Ich lebe hier, ich bin zufrieden, hoffentlich bleibt es so.“ Zur Selbstwahrnehmung von Gastarbeitern in der Bundesrepublik 1955–1973), S. 10.
  5. Vgl. dazu: Bundeszentrale für politische Bildung: Spezial „50 Jahre Anwerbeabkommen“, URL: http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/anwerbeabkommen/ (eingesehen am 10.12.2014).
  6. Hinzu kam die nicht den Gastarbeitern im eigentlichen Sinne zuzurechnende Gruppe der aus Österreich stammende nicht-deutschen Arbeitnehmer mit rund 3.500 Personen.
  7. So wohnte 1969 fast jeder Zweite der zu diesem Zeitpunkt rund 136.000 aus dem Ausland stammenden hessischen Beschäftigten im Bezirk des Arbeitsamtes Frankfurt. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.02.1969, S. 22: „Jeder zweite Gastarbeiter in Frankfurt“.
  8. Herbert, Ulrich: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland: Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge (Schriftenreihe / Bundeszentrale für Politische Bildung 410), Bonn 2003, S. 213.
  9. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.01.1965, S. 85: „Die Gastarbeiter rollen an – Dreimal wöchentlich Sonderzüge nach Frankfurt / Rekord der Anwerber“.
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