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SDS-„Go-in“ während einer Vorlesung des Staatsrechtswissenschaftlers Carlo Schmid, 20. November 1967

Gegen die Notstandsgesetze

Etwa dreißig Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) versuchen, die Vorlesung über „Theorie und Praxis der Außenpolitik“ von Carlo Schmid (1896–1979) im Hörsaal VI der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität zu unterbrechen und den Staatsrechtswissenschaftler und etwa 1.000 anwesende Studierende zu einer Diskussion um die von Schmid in seiner Funktion als Bundesratsminister mitverantworteten „Notstandsgesetze“ zu zwingen. Die als „Go-in“ bereits im Voraus angekündigte politische Aktion beginnt, als SDS-Mitglieder durch einen tiefer gelegenen Veranstaltungsraum des Universitätsgebäudes zu den Notausgängen des Hörsaals VI gelangen, diese öffnen und Schmid, der im August mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main geehrt wurde, lautstark auffordern, das am 20. Oktober 1967 veröffentlichte „Manifest der Hochschulen gegen die Notstandsgesetze“ zu unterschreiben. Als sich Schmid nicht darauf einlässt, versuchten die SDS’ler, in eine Diskussion mit den Studenten seiner Vorlesung zu kommen. Die Störung der Vorlesung findet bei vielen Anwesenden keine Unterstützung, Rufe wie „SDS raus!“ erschallen.

Der Professor gibt sich unbeeindruckt

In der Pause der zweiteiligen Vorlesung wird der Strom für das Mikrofon abgeschaltet. Gleichzeitig versucht der Vorsitzende des Allgemeinen Studentenausschusses, Hans-Jürgen Birkholz (geb. 1940), die Eindringlinge (die zahlreiche Büroklammern auf Schmids Manuskript verteilt haben) vom Podium zu vertreiben. Ein Versuch des SDS-Bundesvorsitzenden Frank Wolff (geb. 1945), zu sprechen, wird vom Auditorium mit Buhrufen quittiert, die sich in Beifall verwandelten, als Carlo Schmid in den Hörsaal zurückkehrt.

Zwischenrufe („Warum sprechen Sie nicht über die Notstandsgesetze?“) ignorierend setzt der Universitätsprofessor seine Vorlesung fort, unterbricht seine (aufgrund des abgeschalteten Mikrofons nur noch für einen Teil der Zuhörer akustisch verständlichen) Ausführungen jedoch einmal mit dem Ausruf: „Ich werde dieser Brachialgewalt, die hier angewandt wird, nicht mit der Gewalt der Polizei entgegentreten.“ Noch ein „Zwischen 11:15 und 13 Uhr stehe ich hier und kein anderer!“ hinzusetzend, beendet Schmid seinen Vortrag unbeeindruckt von der Unruhe im Saal pünktlich.

Bedauern und Rechtfertigung des SDS-Bundesvorsitzenden

Im Anschluss gelingt es Wolff doch noch, vor etwa 600 Studierenden zu einer Verteidigungsrede der SDS-Aktion anzusetzen. Er äußert bedauernd, dass ein gewaltsames „Go-in“ sicherlich die falsche Methode sei, um auf die politischen Anliegen der Vereinigung aufmerksam zu machen. Der SDS habe sich aber nach langen Beratungen trotzdem dazu entschlossen und die Gefahr einkalkuliert, dass die wiederholt angewandte Aktionsform des „Sprengens“ von Vorlesungsveranstaltungen die Geduld vieler Studierender überstrapaziere. Er bewerte den Versuch, die „Szene eines Hörsaals zum politischen Tribunal“ umzufunktionieren, trotzdem als Erfolg. Man könne kaum deutlicher als an der Vorlesung von Professor Schmid aufzeigen, „wie sehr die politischen Wissenschaften unter einer Entpolitisierung litten“ (Schmid hatte an diesem Vormittag unter der Überschrift „Theorie und Praxis der Außenpolitik“ die Konstellation der Großmächte im 18. Jahrhundert behandelt).

Ein vom Direktor der Goethe-Universität, dem Schweizer Soziologen Walter Rüegg (1918–2015) angestrengtes Gerichtsverfahren gegen elf SDS-Mitglieder wegen Hausfriedensbruchs und Nötigung wird im April 1969 von der 12. Strafkammer des Frankfurter Landgerichts abgelehnt.1 Rüegg hatte unmittelbar vor dem vom SDS inszenierten „Go-in“ die Hörsaaleingänge mit Plakattexten versehen lassen, aus denen zu entnehmen ist, dass die angekündigte Aktion seiner Ansicht nach „nicht auf die Ausübung demokratischer Rechte, sondern auf die Einübung faschistischer Terrormethoden“ abziele.2
(KU)


  1. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.4.1969, S. 46.
  2. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.11.1967, S. 7.
Belege
Empfohlene Zitierweise
„SDS-„Go-in“ während einer Vorlesung des Staatsrechtswissenschaftlers Carlo Schmid, 20. November 1967“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/4844> (Stand: 20.11.2022)
Ereignisse im Oktober 1967 | November 1967 | Dezember 1967
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