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Hessische Biografie

Portrait

Karl Schlösser
(1917–2003)

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Weitere Informationen

GND-Nummer

1015325513

Schlösser, Karl [ID = 1912]

* 11.11.1917 Worms, † 2.1.2003 Worms, evangelisch
Dr. phil. – Volkshochschulleiter
Andere Namen | Wirken | Familie | Nachweise | Leben | Zitierweise
Wirken

Werdegang:

  • 1932-1936 Schriftsetzerlehre
  • 1935-1936 Mitglied der SA
  • 1936-1937 Reichsarbeitsdienst
  • 1937-1942 Wehrdienst, 1942 durch Verwundung in Russland erblindet
  • 1948 Abitur
  • 1948-1952 Studium der Geschichte, Romanistik und Slawistik an der Universität Mainz
  • 1956 Promotion
  • 1958-1979 Leiter der Volkshochschule Worms
  • 5.1984 Verleihung des Ehrenringes der Stadt Worms

Werke:

Familie

Vater:

Schlösser, Friedrich Alfred, 1879–1954, Tapezierer und Polsterer in Worms

Mutter:

Schambach, Wilhelmine, 1889–1955, Hausfrau

Partner:

Nachweise

Quellen:

  • Stadtarchiv Worms, Abt. 170/32, Nachlass der Eheleute Karl und Annelore Schlösser.

Literatur:

  • Hessische Familienkunde 26 (2002-2003), Sp. 416
  • Fritz Reuter, Dr. Karl Schlösser zum Gedenken, in: Der Wormsgau 22, 2003, S. 6 f.
Leben

1917 als Sohn eines Handwerkers in Worms geboren, wuchs er mit drei Geschwistern in einfachen Verhältnissen auf. Ein höhere Schulbildung konnten sich die Eltern für ihre Kinder nicht leisten, doch profitierte Karl Schlösser von den Schulreformen der Weimarer Republik, da er als begabter Schüler eine Sprachklasse besuchen durfte (das bedeutete ein Schuljahr mehr und Unterricht in einer Fremdsprache, nämlich Französisch, was sonst für „Volksschüler“ wie das damals hieß, nicht vorgesehen war).

Ab 1932 machte er eine Ausbildung zum Schriftsetzer und arbeitete bis 1936 bei der Wormser Zeitung, ging dann zum Reichsarbeitsdienst und leistete ab Herbst 1937 seinen Wehrdienst bei den Gebirgspionieren in Mittenwald ab, der im September 1939 nahtlos in den Kriegseinsatz überging. Als Weltkriegssoldat wurde er zunächst in Polen eingesetzt, dann in Frankreich und schließlich in Russland. Im Kaukasus erlitt am 8. November 1942, drei Tage vor seinem 25. Geburtstag eine schwere Kriegsverletzung, die ihm das Augenlicht nahm.

Als Kriegsblinder konnte er seinen Beruf als Schriftsetzer nicht mehr ausüben und musste sich neu orientieren. Noch während des Kriegs nahm er eine Dolmetscherausbildung auf, in der er seine bereits vorhandenen Französisch-Kenntnisse ausbaute und dazu noch Russisch lernte. Nach dem Krieg holte er das Abitur nach und studierte ab 1948 Geschichte, Romanistik und Slawistik an der Universität Mainz. 1956 promovierte er zum Dr. phil.; das Thema seiner Dissertation lautete „Die Deutschnationale Volkspartei und die Annäherung Deutschlands an Sowjetrußland 1918–1922“.

Nach der abgeschlossenen Promotion war es für den Kriegsblinden nicht einfach, eine passende Arbeitsstelle zu finden. Zunächst begann er damit, in der Volkshochschule Worms Vorträge und einen Russisch-Kurs zu halten. Dr. Friedrich Maria Illert, der damals die städtischen Kulturinstitute Worms, zu denen Archiv, Museum, Bibliothek und Volkshochschule zusammengefasst waren, in Personalunion leitete, eröffnete Karl Schlösser zunächst probehalber die Chance, ihn bei der Leitung der VHS zu unterstützen. Nach zwei Jahren wurde ihm die Leitung der Volkshochschule eigenständig übertragen. Bis 1979 blieb er in dieser Funktion. In seiner Arbeit war ihm die politisch-historische Bildung immer ein besonderes Anliegen, so dass jedes VHS-Programm neben Sprach-, Sport- und Kreativkursen immer auch politisch-historische Erwachsenenbildung berücksichtigte.

Schon die Auswahl seiner Studienfächer zeigt, dass Karl Schlösser nach Ende des Kriegs sehr schnell damit begonnen hatte, sich mit seiner Vergangenheit als deutscher Soldat auseinanderzusetzen und sich für die ehemaligen Kriegsgegner zu interessieren. Er reiste bereits 1950 zu einem Sprachkurs nach Frankreich – was damals eher ungewöhnlich war. Die Aussöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern war eine wichtige Motivation seines Lebens, er engagierte sich später auch stark in der deutsch-französischen Freundschaft, organisierte früh gut vorbereitete VHS-Reisen nach Frankreich, nach Israel, in die Sowjetunion und nach Polen. Dies war sein Weg, seiner schweren Kriegsverwundung einen Sinn abzugewinnen und in diesem Kontext ist auch sein Hauptwerk, die Aufarbeitung der Judenverfolgung während der NS-Zeit in Worms zu sehen.

Mit diesem Thema kam er zuerst durch seine Arbeit für die Volkshochschule in Kontakt. Begleitend zum Wiederaufbau der Wormser Synagoge in den Jahren 1958–1961 machte die VHS verschiedene Angebote. Es begann damit, dass der damalige Oberbürgermeister Heinrich Völker 1958 in einem Informationsabend über seine erste Reise nach Israel berichtete, bei der er auch mit aus Worms stammenden, nach Israel emigrierten Juden gesprochen hatte. Nach eingehender Vorbereitung flog 1964 eine VHS-Reisegruppe aus Worms unter Leitung von Karl Schlösser erstmals nach Israel. Auch sie traf dort auf ehemalige Wormser Juden.

Im Nachgang zu dieser ersten Israelreise wurde im Winter 1965/66 ein VHS-Arbeitskreis ins Leben gerufen, der sich mit der Fragestellung „Was wurde aus den Wormser Juden?“ beschäftigte. Das Ziel war, nachprüfbare Angaben zu Einzelschicksalen zusammenzutragen, um ein genaues Bild darüber zu gewinnen, dass und wie die nationalsozialistische Judenverfolgung auch in Worms betrieben worden war. Zwischen 15 und 30 Wormser und Wormserinnen trafen sich bis 1969 in monatlichen Zusammenkünften, trugen eigenes Wissen bei, fragten bei Bekannten und Freunden nach. Etwa 15 Jahre lang sammelte die VHS, was ihr an Informationen zu diesem Thema zuging: Briefe und schriftliche Mitteilungen, aber auch mündliche Berichte, die auf eigens dazu entwickelten Familienbögen festgehalten wurden.

Karl Schlösser fand es zunehmend unbefriedigend, dass diese Materialsammlung immer mehr anwuchs, ohne im täglichen Geschäft systematisch und wissenschaftlich aufgearbeitet werden zu können. Deshalb begann er nach seiner Pensionierung zusammen mit seiner Ehefrau Annelore – beide hatten sich einst beim Geschichtsstudium an der Universität Mainz kennengelernt – dieses Desiderat zu schließen. 1986 war die Dokumentation „Die Wormser Juden 1933–1945“ abgeschlossen, von der damals das Stadtarchiv Worms, die Jüdischen Gemeinde Mainz, die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, das Leo Baeck Institut in New York und das Memorial Comittee for Jewish Victims of Nazism from Worms jeweils ein Exemplar erhielten. Seit 2012 ist sie unter http://www.wormserjuden.de/ allgemein zugänglich.

Ein Jahr später, 1987, erschien das Buch „Keiner blieb verschont“, das den historischen Kontext zu der Dokumentation lieferte und die erste wissenschaftliche Darstellung der Judenverfolgung in Worms gewesen ist.

In einem persönlichen Nachwort des Buches „Keiner blieb verschont“ beschreibt Karl Schlösser seinen Weg von einem jungen pflichtbewussten Wehrmachtssoldaten, der das NS-System nicht in Frage stellte, zu einem Erwachsenenbildner und Zeithistoriker, der sich früh der Schuld der Deutschen während der NS-Zeit stellte und sich auch persönlich zu seinen Irrtümer bekannte.

Dieser durchaus selbstkritische Umgang mit der eigenen Vergangenheit stieß nicht nur auf Zustimmung. Eine Darstellung der Forschungsergebnisse zu den Wormser Juden in der Verbandszeitschrift „Der Kriegsblinde“ verbunden mit der ernüchternden Feststellung, dass man als Wehrmachtssoldat einem verbrecherischen Regime gedient habe und dafür Gesundheit und Leben aufs Spiel gesetzt habe, führte zu zahlreichen erregten Lesebriefen gegen den „Nestbeschmutzer“.

Aber auch das offene Bekenntnis, nach der Mitgliedschaft in der evangelischen Jugend, die 1933 in die Hitler-Jugend überführt wurde, als junger Mann in die SA eingetreten zu sein, das Karl Schlösser im persönlichen Nachwort des Buches „Keiner blieb verschont“ ablegte, rief heftige Reaktionen hervor. Diesmal auf Seiten einiger ehemaliger Wormser Juden, mit denen er während der Arbeit an der Dokumentation in Kontakt gekommen war und die nun argwöhnten, dass das Bemühen um Aufklärung nicht ernst gemeint sei und nur der Beschönigung der eigenen Vergangenheit dienen sollte.

Das zeigt, dass es kein leichter Weg war, den Karl Schlösser als Mensch, der die Zeit des Nationalsozialismus bewusst miterlebt hat, beschritten hat. Oder mit seinen eigenen Worten gesagt: „Wir hofften Entlastendes zu finden, aber zutage kam weit Schlimmeres als wir je befürchtet hatten. […] Die Arbeit war bedrückend und schwer durchzuhalten. […] Wir sind mitmarschiert. Glücklicherweise kamen wir nicht in die Lage, auf Befehl Verbrechen begehen zu müssen, dennoch können wir uns damit nicht von jeglicher Mitverantwortung freisprechen. […] Wir haben, wie es ‚echter deutscher Tugend‘ entsprach ‚nur‘ unsere Pflicht getan, treu und ohne zu fragen. […] Wohin wir uns schließlich führen ließen, begriffen auch wir erst nach der Katastrophe von 1945“.

Susanne Schlösser

Zitierweise
„Schlösser, Karl“, in: Hessische Biografie <https://www.lagis-hessen.de/pnd/1015325513> (Stand: 28.11.2023)