Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe

Literatur

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Zonenrandgebiet

  1. Überblick
  2. Das hessische Zonenrandgebiet
  3. Problemfelder im Grenzgebiet: Regelungsbedarf in Zusammenarbeit mit der DDR
  4. Nach dem Fall der Mauer im geografischen Zentrum Europas

1. Überblick

Mehrere Jahrzehnte der Geschichte des Landes Hessen wurden nach 1945 von der entlang der Landesgrenze zum heutigen Freistaat Thüringen auf einer Länge von 268,7 Kilometern verlaufenden innerdeutschen Grenze geprägt. Dies betraf in besonderer Unmittelbarkeit den nördlichen bzw. nordöstlichen Landesteil1 der unter der durch die Zonengrenze verursachten Abschnürung des mitteldeutschen Raumes besonders schwer zu tragen hatte. Die innerdeutsche Grenzziehung zerschnitt 1945 schlagartig einen über Jahrhunderte hinweg zusammengewachsenen Wirtschaftsraum. Zugleich bedeutete sie als Nahtstelle der sich mitten durch Deutschland hindurch entgegenstehenden Blöcke aber auch die alltägliche Konfrontation mit einem spätestens in Folge des NATO-Doppelbeschlusses apokalyptisch anmutenden Bedrohungsszenario und einer Konzentration militärischer Kräfte, die nach Beendigung der bis 1991 gültigen Verteidigungskonzeption überdurchschnittliche Reduzierungen im Osten Niedersachsens sowie in Nord- und Mittelhessen nach sich zog.

2. Das hessische Zonenrandgebiet

Gemäß der Definition der Hessischen Landesregierung zu Beginn der 1970er-Jahre galt ein 40 Kilometer breiter Streifen am nordöstlichen Rand des Bundeslandes entlang der innerdeutschen Grenze mit damals rund 950.000 Bewohnern und einer Fläche von 5.878 Quadratkilometer als sogen. „Zonenrandgebiet“.2 Es umfasste rund ein Fünftel der Landesbevölkerung und ein Viertel der Landesgröße. Der

Die an die damalige Grenze zur Deutschen Demokratischen Republik (DDR) stoßende Region mit den Städten und Kreisen Kassel und Fulda sowie den Landkreisen Eschwege, Hersfeld-Rotenburg, Melsungen, Schlüchtern, Witzenhausen und Vogelsberg (1972 gebildet aus den früheren Landkreisen Alsfeld und Lauterbach stellte einen wirtschaftlich unterentwickelten Landesteil dar, der durch regionale Wirtschaftsförderung, steuerrechtliche Vergünstigungen (Sonderabschreibungen mit Subventionscharakter) und weitere staatliche Maßnahmen gefördert wurde, um die aus der Grenzlage zur ehemaligen DDR entstehenden Nachteile auszugleichen. So wurden die Investitionskosten bei der Errichtung und Erweiterung von Gewerbebetrieben im Zonenrandgebiet gemeinschaftlich durch den Bund und das Land Hessen allgemein in einer Höhe von bis zu 10 Prozent bezuschusst; in übergeordneten regionalen Schwerpunkten, insbesondere in den Zentren Kassel, Fulda und Bad Hersfeld, konnte diese Förderung bis zu 25 Prozent betragen.3

3. Problemfelder im Grenzgebiet: Regelungsbedarf in Zusammenarbeit mit der DDR

Aufgrund der in Artikel 7 des im Dezember 1972 mit der DDR abgeschlossenen Grundlagenvertrags („Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“)4 und des darin enthaltenen Zusatzprotokolls, in dem festlegt wurde, dass lokale Grenzprobleme durch die Zusammenarbeit der Behörden beiderseits des „Eisernen Vorhangs“ gelöst werden sollten, beauftragte die Hessische Landesregierung das Kasseler Regierungspräsidium mit der Erstellung eines Katalogs „regelungsbedürftiger Probleme“. Die die innerdeutsche Grenze berührenden Landkreise Eschwege, Fulda, Hersfeld und Witzenhausen wurden aufgefordert, entsprechende Berichte abzufassen. Der daraufhin entstandene Problemkatalog wurde im März 1973 nach Wiesbaden übersandt. Darin sind die zu Anfang der 1970er-Jahre bestehenden Probleme der Kreise im hessischen Zonenrandgebiet zusammenfassend beschrieben. Als herausragend bezeichnete der Kasseler Regierungspräsident darin insbesondere „Fragen der Wasserwirtschaft einschließlich des Umweltschutzes, des Verkehrs, der Grenzmarkierung sowie des Gesundheitswesens und des Brand- und Katastrophenschutzes im unmittelbaren Grenzbereich“. Dabei stellte die Kaliversalzung der Werra und die daraus entstehenden Nachteile für die regionale, aber auch überregionale Trinkwasserversorgung ein Problem von übergeordneter Bedeutung dar. Eine ebenfalls über den unmittelbaren Zonengrenzbereich hinausgehende Angelegenheit wurde die Frage der Wiedereröffnung von Eisenbahnstrecken betrachtet, so z. B. der Strecke Eichenberg–Halle/Saale–Berlin (bis 1945 betrieben) und Eschwege–Treffurt–Mühlhausen (bis 1952 betrieben). Als besonders bedeutsam und vordringlich wurde auch die Frage einer eindeutigen Grenzmarkierung zwischen beiden deutschen Staaten bezeichnet. „Für den Bereich des gesamten Grenzverlaufs der ehemaligen hessisch-thüringischen Grenze“ sei festzustellen, „dass gerade dieses Problem in den vergangenen Jahren zu Schwierigkeiten geführt hat, weil es des Öfteren zu unbeabsichtigten Grenzverstößen gekommen ist. […]“.5

4. Nach dem Fall der Mauer im geografischen Zentrum Europas

Nach dem Fall der Mauer gelangte Hessen und sein ehemaliges Zonenrandgebiet in das geografische Zentrum Deutschlands und eines nach und nach zusammenwachsenden Europas. Seine Bedeutung für den wirtschaftlichen Durchgangsverkehr stieg in den 90er Jahren rasant an. Diese Entwicklung wurde durch die Eingliederung der mittel-osteuropäischen Staaten6 in den Wirtschaftsraum der Europäischen Union zusätzlich verstärkt. Die Region Nordhessen wurde bis zum Fall der Mauer durch strukturschwache ländliche Gebiete geprägt. Sie entwickelten sich durch Verbesserungen der Infrastruktur und die Ansiedlung wachstumsorientierter Industrien. Nach der Wiedervereinigung wurde der nördliche Landesteil in einzelnen Bereichen zu einem führenden Standort der Wirtschaft. Seit der deutschen Wiedervereinigung hat sich die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft in Hessen stetig verbessert. Das Land stand dabei in den 90er Jahren an der Spitze des Strukturwandels in Deutschland. Viele Menschen verließen ihre Heimat in den neuen Bundesländern Richtung Westen. Das Land Hessen zählte allerdings nicht zu den bevorzugten Auswanderungszielen der ehemaligen DDR-Bürger. Dies ist an der Zahl der hinzugezogenen Neubürger abzulesen. Unter den größeren Flächenländern des früheren Bundesgebietes lag Hessen nach 1990 nur auf dem vorletzten Platz.7

Einen besonderen Platz nahm nach der Wiedervereinigung die Unterstützung des Nachbarlands Thüringen ein.8 Bereits vier Wochen nach der Maueröffnung bewilligte die hessische Landesregierung für den Aufbau Thüringens ein Investitionsprogramm. Es umfasste Bürgschaften in Höhe von 500 Millionen D-Mark.

Hessens Politiker richteten Mitte der 90er Jahre ihre Augen in die Zukunft. Besonders Nordhessen sollte sich wirtschaftlich erfolgreich entwickeln. Doch die frühere innerdeutsche Grenze blieb vielfach präsent. Point Alpha war ein militärischer Beobachtungsposten an der hessischen Grenze zur DDR. Heute ist der Stützpunkt eine Gedenkstätte. Bürger der Gemeinden Geisa (Thüringen) und Rasdorf (Hessen) setzten sich seit 1995 für ihren Erhalt ein. Die Bewohner von fünf bis 1945 zu Hessen zählende Ortschaften des Kreises Heiligenstadt im katholischen Eichsfeld äußerten nach dem Fall der Mauer den Wunsch, nach Hessen zurückgegliedert zu werden.9 Dieses Ansinnen wurde jedoch im Juli 1993 von der thüringischen Landesregierung abgelehnt.

Kai Umbach


  1. Der hessische Teil der Grenze zur DDR verlief ausnahmslos entlang der Grenze des Regierungsbezirks Kassel. 1967 zählten neun der damals fünfzehn Landkreise sowie zwei der drei ehemals kreisfreien Städte dieses Regierungsbezirks zum sogen. „Zonenrandgebiet“. Dies entsprach mit 4.820 Quadratkilometern bzw. 52,4 % etwas mehr als der Hälfte der gesamten Bezirksfläche.
  2. Vgl. Hessen ABC: ein Nachschlagewerk zur Hessischen Landespolitik. Hg. vom Hessendienst der Staatskanzle, Wiesbaden : Selbstverlag, 1988, S. 281 ff.
  3. Grundlage für diese Förderung war das „Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ vom 6. Oktober 1969 (BGBl. I S. 1861). Vgl. ebd., S. 283.
  4. „Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik erklären ihre Bereitschaft, im Zuge der Normalisierung ihrer Beziehungen praktische und humanitäre Fragen zu regeln. Sie werden Abkommen schließen, um auf der Grundlage dieses Vertrages und zum beiderseitigen Vorteil die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik, des Verkehrs, des Rechtsverkehrs, des Post- und Fernmeldewesens, des Gesundheitswesens, der Kultur, des Sports, des Umweltschutzes und auf anderen Gebieten zu entwickeln und zu fördern. […]“.
  5. Zit n. Dittrich, Marcus: Bündeln & Lenken: das Regierungspräsidium Kassel zwischen Verwalten und Gestalten, Kassel 2008 (zugl.: Kassel, Univ., Magisterarbeit, 2008), S. 309.
  6. Mittel- und Osteuropäische Länder – MOEL bzw. Mittel- und Osteuropäische Staaten – MOES. Die Abgrenzung der zu diesem Wirtschafts- und Kulturraum zählenden (EU-)Länder ist unscharf abgegrenzt. Dazugezählt werden im engeren Sinne v. a. Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei, die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, Slowenien und Kroatien, sowie die eigentlich zu Südosteuropa gehörenden Staaten Bulgarien und Rumänien.
  7. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.) / Andreas Bliemeister (Red.): 20 Jahre deutsche Einheit: Wunsch oder Wirklichkeit (DWStatis wissen nutzen), Wiesbaden 2010, S. 10.
  8. Das Land Thüringen wurde 1952 aufgelöst und innerhalb des zentralistisch ausgerichteten Staatsaufbaus der DDR in die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl aufgegliedert. Seine Wiedergründung erfolgte zum 3. Oktober 1990. Seit 1993 trägt das Land offiziell den Namenszusatz Freistaat.
  9. Vgl. Müller, Claus Peter: Umstrittenes Grenzgebiet Hessen-Dörfer in Thüringen – Konflikt um ihre Zugehörigkeit Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.07.1993, Nr. 167, S. 4.
Sachbegriffe
Zonenrandgebiet · Zonenrandgebietsförderung
Einträge
  1. Erste Bad Hersfelder-Festspiele in der Stiftsruine, Juli 1951
  2. Illegale Grenzgänger werden im Kreis Rotenburg festgenommen, 27. Juli 1951
  3. Landtag erklärt Zonenrandgebiet zum Notstandsgebiet, 25. Juni 1952
  4. Hessen beantragt Finanzhilfen für „Zonenflüchtlinge“ und Zonenrandgebiet, 14. August 1952
  5. Wirtschaftliche Folgen der Teilung und Förderungsmaßnahmen im Zonenrandgebiet, 3. April 1954
  6. Land Hessen investiert, 28. Juli 1954
  7. Dramatische Flucht durch die Werra, 17. Juni 1961
  8. Gerüchte über Verlegung des Grenzübergangs Herleshausen-Wartha, 9. Oktober 1961
  9. Versuch der hessischen Landwirtschaft mit „Großstadtferien auf dem Land“, 5. September 1963
  10. Vorschläge der DDR zu Verhandlungen über die Atmosphäre an der innerdeutschen Grenze, 18. März 1966
  11. Österreichische Raumplanungskommission bereist Hessen, 15. Februar 1967
  12. 7. Hessentag in Bad Hersfeld, 30. Juni - 2. Juli 1967
  13. Deutscher Bundestag beschließt das Zonenrandförderungsgesetz, 5. August 1971
  14. Teile der Werra durch die DDR trockengelegt, 1974-1976