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DDR öffnet die Grenzen zur Bundesrepublik, 9. November 1989

Auf einer live vom DDR-Rundfunk übertragenen internationalen Pressekonferenz, unterläuft dem Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED für Informationswesen Günter Schabowski (1929–2015) ein folgenschwerer Irrtum, als er bekanntgibt, dass die neue, weitgehend unbeschränkte Reisefreiheit für DDR-Bürger mit sofortiger Wirkung in Kraft tritt. Diese Reiseregelung war ursprünglich in ganz anders gedachter Form zuvor vom Politbüro bei Gerhard Lauter (geb. 1950), dem Leiter des Pass- und Meldewesens im DDR-Innenministerium, in Auftrag gegeben worden. Die Anordnung lautete, eine zeitweilige Übergangsregelung für die ständige Ausreise aus der DDR zu schaffen, also eine Regelung, bei der keine Rückkehr in die DDR vorgesehen wurde und die den Verlust der DDR-Staatsbürgerschaft bedeuten würde. Lauter und die anderen Mitglieder der Arbeitsgruppe wichen aber ohne Rücksprache bei der Formulierung der Regelung von dieser Vorgabe deutlich ab. Anstatt die Reiseregelung auf die dauerhafte Ausreise (das heißt das endgültige Verlassen der DDR) zu beschränken, weiteten sie die Formulierung auf Reisen bzw. Privatreisen nach dem Ausland aus, was eine Rückkehr in die DDR einschloss. Der Entwurf wurde am Mittag des 9. November an SED-Generalsekretär Egon Krenz (geb. 1937) weitergeleitet. Das Politbüro beanstandete das Papier trotz der wesentlichen Änderung nicht. Krenz trug es gegen 16 Uhr dem ZK vor und merkte an: Äh … wie wir’s machen, machen wir’s verkehrt, aber das ist die einzige Lösung, die uns die Probleme erspart, alles über Drittstaaten zu machen, was dem internationalen Ansehen der DDR nicht förderlich ist.

Die Regelung soll allerdings erst am 10. November 1989 veröffentlicht werden, um dem DDR-Staatsapparat genug Zeit zu geben, die mit der Vergabe von Genehmigungen und der Grenzverkehrskontrolle angestrebte „Kanalisierung“ des Reiseverkehrs (der nun „voraussetzungslos“, das heißt ohne Einladung durch West-Verwandte, erfolgen konnte) organisatorisch vorzubereiten und so eine von der DDR „kontrollierte“ Öffnung der Mauer zu ermöglichen. Auf der für 18 Uhr anberaumten, einstündigen Pressekonferenz kommt die neue Reiseregelung schließlich ganz zum Schluss zur Sprache, als der italienische Journalist und ANSA-Korrespondent Riccardo Ehrman (geb. 1929) die Frage stellt, ob das Politbüro nicht mit dem am 6. November 1989 vorgestellten alten Entwurf der Ausreiseregelung einen Fehler gemacht habe.1 Schabowski, SED-Funktionär und Mitglied des ZK-Politbüros, ist zunächst erstaunt über die Frage des Journalisten, da er glaubt, die neue Regelung sei bereits bekannt gemacht worden. Schließlich sucht er aus seinen Unterlagen einen Zettel mit dem Text des Regelungsentwurfs heraus, der zuvor vom Politbüro in Auftrag gegeben worden war und zitiert: Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. […] Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu West-Berlin erfolgen.

Peter Brinkmann (geb. 1945), Reporter der Hamburger BILD-Zeitung hakt nach: Wann tritt das in Kraft?. Schabowski antwortet: Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich. Die über den Rundfunk verbreitete Meldung, die zuerst unter anderem um 19.17 Uhr als Ausschnitt aus der Pressekonferenz in der ZDF-Nachrichtensendung „heute“ gebracht wird, löst am Abend des 9. November einen Massenansturm der DDR-Bürger auf die Grenze nach West-Berlin aus. Nach Ausstrahlung der ARD-Tagesthemen, die der Moderator Hanns Joachim Friedrichs (1927–1995) um 22:42 Uhr mit den Worten eröffnet: „Guten Abend, meine Damen und Herren. Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab, aber heute Abend darf man einen riskieren: Dieser neunte November ist ein historischer Tag: die DDR hat mitgeteilt, daß ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind, die Tore in der Mauer stehen weit offen.“ versammeln sich Tausende an den Berliner Grenzübergängen und erzwingen bis etwa Mitternacht deren Öffnung.
(KU)


  1. Dieser Entwurf sah vor, den Gesamtreisezeitraum für DDR-Bürger auf 30 Tage pro Jahr zu beschränken. Zudem behielt sich der Staat „Versagungsgründe“ vor, die nicht eindeutig und nachprüfbar definiert wurden und den Behörden großen Spielraum einräumten, mehr oder weniger willkürlich eine beantragte Ausreise zu untersagen. Auch die Finanzierung der Reisen wurde in dem Entwurf nicht näher geregelt.
Belege
Weiterführende Informationen
Hebis-Schlagwort
Schabowski, Günter ; Deutschland, DDR, Revolution, 1989 ; Pressekonferenz ; Grenzöffnung ; Geschichte 1989
Empfohlene Zitierweise
„DDR öffnet die Grenzen zur Bundesrepublik, 9. November 1989“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/2762> (Stand: 9.11.2022)
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