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Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe

Festliche Eröffnung der documenta in Kassel, einer internationalen Ausstellung zur Kunst der Moderne im 20. Jahrhundert, 16. Juli 1955

Mit einem Festakt wird in Kassel die erste documenta als „internationale Ausstellung der Kunst des XX. Jahrhunderts“ eröffnet. Sie zeigt 670 Werke von 148 Künstlern. Die parallel zur bereits Ende April 1955 eröffneten Bundesgartenschau (mit standortmäßigem Schwerpunkt in der Kasseler Karlsaue) laufende Ausstellung ist aus einer Idee des Kasseler Hochschullehrers Arnold Bode (1900–1977) geboren worden. Sie steht unter dem offiziellen Protektorat des deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss (1884–1963).

Groß angelegter Querschnitt der in der NS-Zeit verfemten Moderne und Avantgarde

Bode, der das Konzept zur documenta zusammen mit dem Kunsthistoriker Werner Haftmann (1912–1999) entwickelt hat, überzeugte 162 Leihgeber aus aller Welt (27 Museen, 26 Kunsthändler und über hundert Privatsammler aus Europa und den Vereinigten Staaten), seine Vorstellung eines „groß angelegten Querschnitt[s] durch die oberste Region der Künste in den ersten 50 Jahren unseres Jahrhunderts“1 mit der Herausgabe ihrer Schätze zu unterstützen. Bode verfolgt dabei jedoch weniger die Absicht, der nach 1945 entstandenen zeitgenössischen Kunst ein Forum zu bieten. Vielmehr stehen im Mittelpunkt seines Interesses jene Arbeiten, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft als „entartet“ verfemt und weitgehend aus dem öffentlichen Raum verbannt worden waren.

Organisation und Ausstellungsort

Dem für die Auswahl der gezeigten Werke verantwortlichen „Arbeitsausschuss“ gehören außer Bode und Haftmann noch der designierte Direktor der Hamburger Kunsthalle Alfred Hentzen (1903–1985), der Direktor der Karlsruher Kunstakademie Kurt Martin (1899–1975) sowie der Bildhauer Hans Mettel (1903–1966) an. Offizieller Veranstalter des Ereignisses ist die „Gesellschaft Abendländische Kunst des XX. Jahrhunderts e. V.“, deren Mitglieder sich aus lokalen Kunstkennerkreisen, aber auch aus der Kasseler Politikerszene rekrutieren. Als Ausstellungsort dient das am Friedrichsplatz im Herzen Kassels gelegene Fridericianum, eines der ältesten eigens für diesen Zweck konzipierten öffentlichen Museumsgebäude auf dem europäischen Festland. Es wurde 1779 vollendet und beherbergte zunächst die Kunstsammlung der hessischen Landgrafen sowie die fürstliche Bibliothek. Im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, wurde das klassizistische Gebäude nach gestalterischen Plänen von Arnold Bode und Werner Haftmann provisorisch, doch in funktionaler Weise für die Ausstellung wieder hergerichtet. Unverputzte Mauern und nackte Betonböden, Neonröhren und Presspappwände, Teile unverkleideter Plattendämmung und mit Kunststofffolien abgedeckte Fenster geben dem Ambiente einen kargen, eigentümlich nüchtern-sachlichen Charakter. Der von Arnold Bode mit kargem Materialeinsatz geschaffene inszenatorische Rahmen und die optimal ausgewählte Platzierung der gezeigten Kunstwerke verleihen der Schau einen verblüffend geschlossenen Eindruck, der bei vielen Besuchern großen Anklang findet, und zu Vergleichen mit der Ästhetik des Bauhaus-Designs oder des italienischen Realismus der Zwischenkriegszeit anregt.

Finanzierung und Konzept

Die improvisierte Renovierung des Gebäudes und alle anderen Organisationskosten werden am Ende Gesamtkosten in Höhe von 364.000 DM verursachen, von denen Bode immerhin 200.000 DM aus Mitteln der öffentlichen Hand einwerben kann. Weitere finanzielle Unterstützung erhält das Projekt von 14 Spendern aus der deutschen Wirtschaft. Die erste documenta präsentiert einen Querschnitt der modernen Kunst, so wie sie in den 1930er und 1940er Jahren in Deutschland unterdrückt worden war. Einen deutlichen Schwerpunkt bildet dabei die abstrakte Malerei der 1920er und 1930er Jahre. Zu den gezeigten Künstlern zählen zahlreich die nachmaligen „Klassiker“ der Moderne, wie zum Beispiel Marc Chagall (1887–1985), Franz Marc (1880–1916), Piet Mondrian, Henri Matisse, Max Beckmann, Otto Dix, Max Ernst, Wassily Kandinsky und Henri Rousseau.

Die erste documenta wird zu einem überraschenden Publikumserfolg. Bis zum 18. September besuchen nicht weniger als 134.850 Menschen die Ausstellung, die zukünftig alle vier oder fünf Jahre stattfinden wird und die Stadt Kassel zum Standort einer weltweit einflussreichen Kulturinstitution macht.
(KU)


  1. Zitiert nach DIE ZEIT Online, Beitrag vom 11.4.2007, von Alfred Nemeczek: Documenta: Der Kasseler Weltmoment (eingesehen am 10.5.2012) [ursprüngl. veröffentlicht in: DIE ZEIT Nr. 28, vom 7.7.2005]
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Festliche Eröffnung der documenta in Kassel, einer internationalen Ausstellung zur Kunst der Moderne im 20. Jahrhundert, 16. Juli 1955“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/1052> (Stand: 16.7.2023)
Ereignisse im Juni 1955 | Juli 1955 | August 1955
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